Höxter (red). Das diesjährige Via Nova Kunstfest Corvey 2021 unter dem Motto „Die Erde ist ein Sänger. Odysseen“ fand am Wochenende seinen erfolgreichen Abschluss.
Über 90 internationale Autoren, Musiker, Tänzer, Wissenschaftler, Regisseure und Schauspieler untersuchten von heutigen Positionen aus die „Odyssee“ Homers. An drei Veranstaltungswochenenden besuchten 2000 Zuschauer die 20 Einzelveranstaltungen. Neueste wissenschaftliche Forschungen, speziell für das Kunstfest geschriebene Texte von Schriftstellern, eine Theater-Uraufführung, ein Ballett zu Homers Epos, neue Kompositionen und wissenschaftliche Führungen zu den Szenen aus der Odyssee im Westwerk des Schlosses bewiesen, wie zeitlos und themenreich der antike Mythos ist.
Das umfangreiche Spektrum ergänzten ein Kinderprogramm und die Ausstellung „Blow up“ der Malerin und Fotografin Ute Langanky mit Texten von Thomas Kling.
Die drei Wochenenden hatten je einen Themenschwerpunkt:
- neuen Erfahrungen müssen Entdeckungen notwendig vorangehen
- das Ziel darf auch auf langen Irrfahrten nicht vergessen werden
- erst Erzählen und Erinnern denken Vergangenheit und Zukunft zusammen.
„Die Odyssee ist mehr als ein Stoff der Weltliteratur, sie steht am Anfang unseres literarischen, kulturellen und zivilisatorischen Gedächtnisses“, betont die künstlerische Leiterin des Kunstfestes, Brigitte Labs-Ehlert, „Odysseus stellt einen Archetypus, ein Urbild menschlichen Daseins, dar. Die Grundkonflikte jedoch bestehen bis heute und die Fragen in der Odyssee sind bis heute unbeantwortet. Deshalb gibt es diese Unausschöpflichkeit in der Aneignung des antiken Stoffes, der Bearbeitungen, der Variationen, die in den Veranstaltungen gezeigt wurden.“
In den von den Schauspielern Corinna Harfouch, Burghart Klaußner, Edgar Selge und Franziska Walser gelesenen Passagen der „Odyssee“ fragten sich der Held und seine Frau Penelope: Wie erkennt man die Angehörigen wieder, was sind verlässliche Zeichen? Das Neupositionieren und -austarieren moralischer und ethischer Positionen erfolgt permanent und ist ein andauernder Prozess. Waren Odysseus’ Listen aus heutiger Sicht moralisch verwerfliche Täuschungsmanöver oder notwendige, einzig verbliebene Überlebensstrategien?
Das Epos „Odyssee“ muss, wie jede Überlieferung, in unterschiedlichen Zeitepochen von verschiedenen Positionen aus stets erneut befragt werden. Weltliterarische Erzählungen bündeln, und das macht ihre Zeitlosigkeit und Brisanz aus, aktuelle Fragen wie ein Brennspiegel. Den Schriftsteller Navid Kermani beschäftigte die Frage, wie man den Tod in Worte fassen kann, obwohl die Sprache vor ihm versagt. Odysseus nahm am Kampf um Troja teil, viele Gefährten starben.
Kermanis für das Festival geschriebener Text umkreiste das Sterben des Vaters, die Geburt des Kindes, eine lebensbedrohende und überstandene Krankheit. Eigene biografische Einschnitte verwob Kermani mit den Nahtoderfahrungen des Schriftstellers Péter Nádas. In seiner Erzählung „Der Fallmeister“ hingegen konfrontierte der Schriftsteller Christoph Ransmayr die Zuhörer mit Fragen nach Schuld, Verstrickung und Erlösung. Hatte der Vater fünf Menschen ermordet und anschließend sich selbst? Können Spuren überhaupt von der Wahrheit erzählen?
Biografische Wahrheitssuchen lassen sich zweifelsfrei nie ganz abschließen, so sein Fazit. Die Schriftstellerin Esther Kinsky stieg in ihrem für das Festival geschriebenen Text in das Fegefeuer hinab, in das Dante Alighieri seinen Odysseus Schuld abbüßen lässt, und fragte: Wie wurde aus dem Seefahrer und Schiffbrüchigen ein Sänger?
Die Autorin Ulrike Draesner analysierte in ihrem Gespräch mit dem griechischen Literaturwissenschaftler Jonas Grethlein das Dichten aus veränderter Perspektive: Warum eigentlich bekommt Odysseus von Homer vierzig Verse zugestanden, um über die vergangenen zehn Jahre auf dem Meer zu erzählen, von denen er mehrere Jahre zudem noch bei anderen Frauen wie Kirke und Nausikaa auf deren Inseln verbrachte. Seine Frau Penelope, die inzwischen sein Königreich wirtschaftlich und politisch erfolgreich durch all die Jahre manövrierte, dagegen nur vier Zeilen?
Auch die kürzlich verstorbene Schriftstellerin Barbara Köhler, deren Text deshalb die Schauspielerin Maren Eggert las, untersucht die Odyssee aus konträrer Sicht. Bei beiden ging es nicht um eine primär weibliche Perspektive, sondern darum, wie man etwas Neues, auf Gemeinsamkeiten Beruhendes beginnen kann. Der Held in dem Roman „Horcynus Orca", dem fulminanten Epos des zeitgenössischen Schriftstellers Stefano D’Arrigo, versucht, gezeichnet vom zweiten Weltkrieg, auf seine Heimatinsel Sizilien zurückzukehren. Durch die lebensbedrohliche Passage zwischen Scylla und Charybdis leitet ihn eine mythische Gestalt. Nur sein ununterbrochenes Erzählen von dieser Reise kann ihm Anwesenheit und Überleben sichern.
Von diesem ewigen Odysseus-Thema lasen die Schauspieler Krista Birkner und Boris Aljinovic. Dass die „Odyssee“ eine moderne europäische Erzählung ist, bewies auch die Uraufführung des griechisch-deutschen Theaterprojektes „Odyssee over Europe“ Eine Reise voller Spielfreude, mehrsprachig, mit Musik, Gesang und Akrobatik. Sie führte an verschiedene Schauplätze in Europa - Orte der Gewalt und Kriege, der Verführung und Verlockung. Ein Aufbruch in unbewohnte Welten, wie ihn Odysseus im 20. Jahrhundert vielleicht unternommen hätte. Der Schriftsteller Michael Köhlmeier und der Philosoph Konrad Paul Liessmann erforschten im Gespräch: Kann man heimkommen, obwohl sich auch am Ort, den man vor langer Zeit verlassen hat, vieles veränderte?
Für die heutigen über das Meer ziehenden Migranten und Flüchtlinge lautet allerdings die Frage anders: Wird man je in eine Fremde heimkommen können? Der schwedische Schriftsteller österreichisch-griechischer Herkunft Aris Fioretos berichtet von seiner Suche nach seiner familiären Herkunft, die sich nur noch aus Spuren heraus begreifen, aber erzählend bewahren lässt. Dass Erzählen und Rückbesinnen das menschliche Gedächtnis überhaupt erst formt, machten die Schriftstellerin Ilma Rakusa und die Gräzistin Susanne Gödde verblüffend deutlich.
Wie wichtig Spurensuche und Erinnern sind, zeigten die Musiker und Sänger Dine Doneff und Maria Dafka, die mit Verve an die verbotene und vom Vergessen bedrohte mitreißende mazedonische Musikkultur erinnerten. Und wie grandios Musik überhaupt von den menschlichen Odysseen, von Leidenschaft, Angst, Hingabe, Mut, Verzweiflung, Hoffnung, Wiedererkennen kündet, liessen die eingeladenen exzellenten Musiker, Sänger und Komponisten - Akademie für Alte Musik Berlin, Detmolder Kammerorchester, Thilo Krigar, Duo Gazzana, Lautten Compagney, Carolin Widmann, Isabel Pfefferkorn, Kornilios Selamsis, Mike Svoboda, Sokratis Sinopoulos, Zugvogelmusiker, Trio Vitruvi mit Tänzern des Royal Danish Ballet - erleben. Ein begeistertes Publikum dankte ihnen allen.
Foto: Via Nova Kunstfest